Mythos

Die religiöse Bedeutung des Lebensbaums in den Kulturen

Lebensbaum - Russische Abbbildung

Blätterkronen, die in luftige Höhen ragen, das Wurzelgeflecht tief im Erdreich verankert und den Stamm im Hier und Jetzt - der Baum fungiert in vielen Kulturkreisen und Religionsgemeinschaften als Inbegriff des Allumfassenden. Als Lebensbaum schließt er den immerwährenden Kreislauf, symbolisiert Familiengeschichte und stellt die Verbindung zwischen der Unterwelt und dem Sitz der Götter her.
Seine hervorragende Bedeutung beschränkt sich nicht nur auf die germanische Kultur; eine übergeordnete Rolle spielte er auch bei den Hebräern, Griechen und Babyloniern.

Weltenbaum, Irminsul und Yggdrasil

Den Germanen waren Bäume heilig. Sie verehrten vorrangig Linden und Eichen und hielten unter den Wipfeln ihren Thing ab. Rechtsprechung und Religion waren vormals untrennbar verbunden und so traf man sich unter den geachteten Waldriesen und richtete über menschliche Verfehlungen und Straftaten. In der Vorstellung der Germanen verband der Lebensbaum das Himmelreich mit der Schattenwelt. Auf diese Interpretation sind Wissenschaftler in allen Teilen Europas, Asiens und Nordamerikas gestoßen. Überall wo Schamanen dereinst als Medium zwischen Himmel und Erde agierten, hat sich jener Glaube in den Köpfen der Völker festgesetzt. Handfeste Beweise für die Existenz der Yggdrasil, dem Lebensbaum an dem Odin dereinst neun Tage lang hing, gibt es nicht. Angeblich war er der erste, größte und prächtigste Baum der Erde. Neun unterschiedliche Welten befanden sich an ihm und symbolisierten beispielsweise die Midgard (Heim der Menschen), das Jötunheim (Heim der Riesen) oder die Walhal (Reich der gefallenen Soldaten). Greifbarer ist die Irminsul. Die "Große Säule" soll von Bonifatius im heutigen Hessen gefällt worden sein, um den Menschen zu beweisen, dass ihre nordischen Götter machtlos gegen den christlichen Schöpfer sind. Die Irminsul gilt nicht als klassischer Lebensbaum, wenngleich sie die Kraft und Allmacht der Pflanzen wie kaum ein zweites Symbol unterstreicht. Denn: Sie stützte nach alter Überlieferung den Himmel und sorgte dafür, dass das Firmament nicht auf die Erde fiel.

Heidnisch, monotheistisch und international

Wie ein roter Faden zieht sich der Lebensbaum als Bindeglied zwischen den Welten durch die Kulturen. Seine wohl berühmteste Erwähnung fand er im Alten Testament. Der Paradiesbaum, an dem Adam und Eva der Versuchung erlagen, gilt als eine Variante des Lebensbaums. Auch der gekreuzigte Jesus wurde im Mittelalter zeichnerisch als Baum inszeniert, wobei die ausgebreiteten Arme die Äste darstellten. Der Leib Christi, der während der Eucharistie an die Gläubigen ausgeteilt wird, so steht es in der Offenbarung des Johannes, entstammt dem Baum des Lebens, der im Garten Eden stehen soll. Ähnliche Erwähnungen finden sich auch im Islam und unter dem buddhistischen Bodhibaum erlangte der Religionsgründer Siddhartha Gautama die Erleuchtung. Die Symbolik des Baums der Welt ist in jedem Fall älter als die etablierten Religionen selbst, was den Rückschluss zulässt, dass der Mensch bereits vor Jahrtausenden den Gewächsen überirdische Fähigkeiten zuschrieb. Die später aufkeimenden Ein-Gott-Glaubensgemeinschaften machten sich den bereits vorhandenen Volksglauben zu Nutze und änderten ihn dahingehend ab, dass der Baum des Lebens mit den neuen Prinzipien kompatibel erschien. Als Synonym der kosmischen Ordnung steht er sowohl mit dem Fruchtbarkeitsmythos wie auch mit der Schöpfungsgeschichte in Zusammenhang und wurde von den Menschen als Achse angesehen, um die das Schicksal der Welt kreiste.